Warum werden wir süchtig?
Moin, ich bin Sandro, 28 Jahre alt, wohne in Lübeck und arbeite seit Oktober für den Selbsthilfeverein CliC Deutschland Landesverband NORDOST. Vor meiner Tätigkeit bei CliC habe ich 4 Jahre als Streetworker in Lübeck gearbeitet und dort Menschen ohne Obdach, Menschen mit Suchtproblemen und psychischen Erkrankungen begleitet und ihnen bestmöglich geholfen. Bevor ich jedoch in diese Art von Arbeit gerutscht bin, war ich selbst suchtkrank, ich war wohnungslos und habe mein Leben zum größten Teil damit verbracht irgendwie an Stoff zu kommen. Dabei war das Suchtmittel fast egal, ich habe täglich getrunken und ansonsten alles konsumiert, was ich zwischen die Finger bekommen habe. Vor ca. 6 Jahren habe ich jedoch einen anderen Weg eingeschlagen, ich habe eine Entgiftung, eine stationäre Therapie und eine Wiedereingliederung absolviert und mein Leben komplett verändert. In der Konsumzeit, der Therapie und in meiner jetzigen Arbeit stelle ich mir jedoch immer die Frage, warum wir das tun, was wir tun. Warum rennen wir so verzweifelt einem oder mehreren Suchtmitteln hinterher, selbst wenn wir unsere Familie verlieren, wohnungslos werden oder körperliche Schäden davontragen, machen wir weiter und Konsumieren. Warum werden wir süchtig? Was haben wir davon?
Was ist eine Sucht?
Bevor wir uns jedoch die Frage stellen, warum wir Süchtig werden oder warum wir überhaupt konsumieren, sollten wir uns einmal anschauen, was Sucht eigentlich ist.
Schlägt man das Wort „Sucht“ im Wörterbuch nach, wird es wie folgt erklärt:
1. „krankhafte Abhängigkeit von einem bestimmten Genuss- oder Rauschmittel o. Ä.“
2. „übersteigertes Verlangen nach etwas, einem bestimmten Tun“ (Quelle: Oxford Language“)
Die WHO definiert Sucht als eine regelmäßige und andauernde Vergiftung durch den Gebrauch von Suchtmitteln. (Quelle www.caritas.de)
Der Homburger Wissenschaftler Klaus Wanke schrieb: "Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Individuums". (Quelle www.caritas.de)
Demnach ist eine Sucht also ein unkontrolliertes Verhalten oder Verlangen nach einem Rauschmittel oder einer Tätigkeit, man unterscheidet zudem zwischen Stoffungebundenen Süchten wie z. B. Sexsucht, Spielsucht, Sportsucht und einer stoffgebundenen Sucht wie Tabaksucht, Heroinsucht, Cannabissucht. Allerdings gibt es Menschen, die beides kombinieren, wie den Trinker in der Spielothek oder dem ständig arbeitenden, trinkenden Arzt, welcher sich gerne auch mal ein paar Schmerzmittel auf Rezept ausstellt. Demnach kann eine Sucht also fast alles sein, jede Tätigkeit und jeder Stoff, der uns ein gutes Gefühl vermittelt kann zur Sucht werden.
Aber auch hier wird zwischen einer psychischen und einer körperlichen Abhängigkeit unterschieden.
Psychische Abhängigkeit:
„Die psychische Abhängigkeit zeigt sich in dem ständigen Verlangen nach einer psychoaktiven Substanz und dem Bedürfnis, diese wiederholt einzunehmen oder nach einer Handlung und dem Bedürfnis diese laufend auszuführen, um das Wohlbefinden herzustellen.“
(Quelle: www.oesterreich.gv.at)
Körperliche Abhängigkeit:
„Bei körperlicher Abhängigkeit reagiert der Körper auf die ständige Gifteinnahme mit Gegenregulationen des Stoffwechsels. Die bei plötzlichem Entzug des Suchtgiftes überschießende Gegenregulation erzeugt die meisten Entzugssymptome. Ein Vorzeichen körperlicher Abhängigkeit ist die Gewöhnung mit Toleranzentwicklung und Dosissteigerung. Körperliche Entzugserscheinungen treten nur bei Suchtmitteln mit Toleranzausbildung auf. Dazu gehören vor allem Opiate (z.B. Heroin), Alkohol, Barbiturat-Schlafmittel und viele weitere Dämpfungs- und Schlafmittel sowie angstlösende Beruhigungsmittel. Im Vordergrund stehen Unruhe, weite Pupillen, Schweißausbrüche, Gereiztheit, Frieren, Zittern, Schwindel, Abgeschlagenheit, Schlafstörungen, Übelkeit. Dazu kommen substanzspezifische Beschwerden.“ (Quelle: www.caritas.de)
Warum werden wir süchtig?
Nachdem wir nun erfahren haben, was eine Sucht überhaupt ist, stellt sich die Frage, warum werden wir Süchtig? Ich meine, wenn jemand Süchtig wird, nimmt das irgendwann Probleme mit sich. Ich selbst habe meine Wohnung verloren, einige Beziehungen in den Sand gesetzt, meine Gesundheit hat einige Einbußen verbucht und meine Familie hat sich von mir distanziert, dennoch habe ich weiter gemacht. Andere wiederum landen in Gefängnissen, weil sie Kriminell geworden sind, um ihre Sucht zu finanzieren, manche erkranken an Leberzirrhose oder Sterben an einer Überdosis. Also, wenn wir doch so viel scheiße durch diese Suchtstoffe bekommen, warum werden wir dann überhaupt süchtig? Laut der Medizin setzten Suchtmittel Botenstoffe frei, die in uns ein Wohlbefinden auslösen und diesen Zustand möchten wir immer wieder erreichen.
Dem stimme ich vollkommen zu, wenn ich an meinen ersten Rausch durch Cannabis denke, muss ich heute noch lachen. Ich lag auf einer Wiese mit Freunden, wir haben eine Tüte geraucht und waren unglaublich high, wir mussten über jeden Mist lachen und konnten nicht aufhören komplett albern zu sein. Also ja, natürlich möchte ich diesen Zustand am liebsten immer haben, warum auch nicht? Es hat spaß gemacht, wir mussten lachen und uns ging es einfach gut. Wenn ich an früher denke, habe ich da kein Problem gesehen. Auch meine ersten male Alkohol und Kokain, waren einfach überwältigend. Ich kann den Punk also gut nachvollziehen, dass wir diesen Zustand immer wieder erleben möchten oder am liebsten sogar 24 Stunden 7 Tage die Woche. Demnach werden wir Süchtig, weil wir wollen, dass es uns gut geht. Nur blöd, dass das nicht so einfach geht.
Wann ist man süchtig?
Wir wissen nun, was eine Sucht ist, aber ab wann ist bezeichnen wir jemanden als süchtig? Auch hier gibt es wieder eine medizinische Definition, welche ich gerne kurz beleuchten würde.
Im aktuellen ICD 11* wird eine Sucht wie folgt definiert:
„Eine Störung der Regulierung von Substanzgebrauch, die durch wiederholten oder kontinuierlichen Konsum entsteht
Charakteristisches Merkmal ist ein starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren, welches sich durch die fehlende Fähigkeit manifestiert, den Konsums zu kontrollieren, einer zunehmenden Priorisierung des Konsums gegenüber anderen Aktivitäten und fortgeführten Konsum trotz Schädigung oder negativer Konsequenzen. Diese Erfahrung ist häufig begleitet durch subjektives Verlangen oder Drang zu konsumieren. Physiologische Merkmale der Abhängigkeit können ebenfalls bestehen, einschließlich Toleranz gegenüber der Substanz, Auftreten von Entzugssymptomen nach Absetzen oder Reduktion der Substanz oder Konsum einer gleichartigen Substanz, um Entzugssymptome zu verhindern oder abzuschwächen. Die Merkmale der Abhängigkeit bestehen in der Regel in einem Zeitraum von 12 Monaten, oder die Diagnose kann auch bei Substanzkonsum bei anhaltendem (täglich oder fast täglich) gestellt werden“ (Quelle: www.springermedizin.de)
Ich finde, dass man eine Sucht sehr gut an diesem Text aus dem ICD definieren kann. Sehen wir uns allein die Toleranzsteigerung an, ich selbst brauchte am Ende eine Kiste Bier und eine Flasche Kräuterlikör, um einigermaßen gut zu funktionieren. Es werden immer wieder LKW-Fahrer angehalten, die einen Promillewert von über 3 Promille aufweisen. Diese Dosis wäre für einen „normalen“ Menschen tödlich. Und auch das ich weiter gemacht habe, obwohl so vieles in die Hose gegangen ist, stimmt. Jedoch muss ich anmerken, dass „Sucht“ sich in der Medizin leichter definieren lässt als im „echten“ Leben. Die grenzen zwischen einem riskanten Konsum, einer „wilden“ Phase und einer Sucht waren für mich damals nicht eindeutig. Ich weiß nicht mehr, wann es von „Spaß“ zu einer Sucht geworden ist. Im Nachhinein kann ich sowas leichter beurteilen, aber in der Situation ist es deutlich schwerer zu greifen.
*ICD
Die Abkürzung „ICD” steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”. Mithilfe des ICD -Codes können weltweit Krankheiten und Gesundheitsprobleme eindeutig zugeordnet werden.
Schlusswort
Wir konnten nun beleuchten, was eine Sucht ist und wann wir als süchtig eingestuft werden. Wie wir sehen können, ist das Thema weit umfassend und greift durch alle Lebenslagen und auch in jede Schicht der Gesellschaft. Ich möchte mit euch mit diesem Blogeintrag auf meine zukünftigen Einträge vorbereiten, euch ein Bild von dem Malen, über was ich hier schreibe. Sucht ist scheiße, ja. Keiner der heute ein Bier trinkt, tut dies mit dem Ziel irgendwann süchtig zu werden. Dennoch passiert es. Menschen werden aus den verschiedensten Gründen süchtig und leiden unter dieser Krankheit. Ich möchte euch zeigen, wie fassettenreich und vielschichtig dieses Thema ist.
Ich möchte euch einladen mich auf dem Weg durch die Suchtarbeit zu begleiten und euch mehrere Wege aufzeigen, wie man aus der Sucht kommen kann. Dieser Blog bekommt einmal im Monat einen neuen Beitrag, ich werde mich mit Menschen unterhalten, welche akut in der Sucht stecken und ihre Ansichten mit euch teilen. Ebenso wird es Beiträge über Menschen geben, die es aus der Sucht geschafft haben und sich heute für den Kampf gegen die Sucht einsetzten. Gerne schreibe ich über Themen, die euch Interessieren, schreibt mir einfach eine Mail mit euren Gedanken an [email protected]. Bis dann 😊
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