No glimmer for one
We’ll have sherry with the soup
Ich mag es spontan zu sein. Eben noch in Schlumphosen auf der Couch sitzend und ein wenig später mit Freunden am Billardtisch stehend. Seltsamerweise war dies bei einem Fest nie der Fall: Silvester. Den Jahresabschluss gebührend zu feiern, war und ist mir nach wie vor irgendwie wichtig. Ich kann mich an verrückte Jahre erinnern. Damals hatten wir schon im März angefangen das Neujahrsfest zu planen. Musikordner für WINamp hatten wir vorbereitet und Verantwortungen für Buffet etc. vergeben. Im Vergleich zu Geburtstagen oder Weihnachten hatte ich dem Jahreswechsel viel mehr Bedeutung beigemessen. „Aber warum?“ Lange Zeit hatte ich mir darüber nie Gedanken gemacht. Meine Abstinenz zwang mich in gewisser Weise dazu.
Natürlich gibt es eine ganz einfache Antwort auf die Frage: „Weil ich es mochte bzw. weil ich es mag.“ In einer großen Runde Silvester zu feiern, dazu bedarf es einer gewissen Organisation und ich liebe es zu organisieren. Ich koche sehr gerne. Ich bin gerne DJ. Ich mag es sehr, wenn andere eine gute Zeit haben und diese Rolle nahm ich sehr gerne ein. Irgendwie hatte so eine Planung einen beruflichen Touch. Ich hatte ein Projekt „Silvester“ und konnte wieder „Teamlead Operations“ sein. Auch die Atmosphäre fing mich mehr ein. An Weihnachten ist es auch festlich; aber es ist anders festlich. Eher im besinnlichen Kontext, ruhig und bedachtsam vielleicht sogar steril. Silvester hatte stets die Option laut und bunt zu werden. Und wenn ich gerade beim Punkt der Lautstärke bin – auch der Knallerei konnte ich seinerzeit viel abgewinnen. Ich hatte damals Unmengen an Raketen, Böllern und Zeugs gekauft.
Die Sinnfrage hatte ich mir damals nicht gestellt. Nicht nur in Bezug auf die Umweltschäden und den Einfluss auf die Tierwelt, sondern auch die Frage des Geldes und der Zeit, die ich mit diesen Dingen verbrachte, waren außerhalb von meinem Horizont. Ich mochte es. Punkt! Heute verzichte ich aus den genannten Gründen gerne darauf.
Aber es gab auch zwei weitere Argumente, auf die ich erst sehr viel später kam. Zum einen war Silvester ein Blankoscheck zur Druckbetankung. Auf jeden Fall wird mein Missbrauch in der Masse verschwinden. Dieser Gedanke beflügelt und beruhigt zugleich. Wenn alle angestrengt aus den Augen gucken, dann hat jeder mit sich selbst genug zu tun. Womöglich war mir es unbewusst deswegen auch so wichtig, dass alles früh in „Sack und Tüten“ war. Was für alle ein Fest war, war für mich zusätzlich ein Mittel zum Zweck. Und zweitens – und deswegen mag ich Silvester trotz des Suchtmittels immer noch sehr gerne – empfinde ich es Erleichterung, wenn Dinge zu Ende gehen. Ich gebe zu, dass das ein sehr schematisches Lebensbild ist, aber Silvester ist irgendwie für mich so, als würde ich das Kapitel von einem Buch zu Ende lesen. Diese Sehnsucht nach etwas Neuem und die Gewissheit Etwas abgeschlossen zu haben, hatte für mich einen enormen Wert. Dies zu erkennen, hat mein Leben verändert.
We’ll have white wine with the fish
Wieso das? Wir gehen kurz von Silvester weg… Neben dem Alkohol behaupte ich im Nachhinein in einer zweiten Sucht gelebt zu haben. Ich war ein Workaholic. Es gab Wochen, da ich habe ich mehr Überstunden gemacht als ich reguläre Arbeitsstunden hätte überhaupt leisten müssen, nur um dieses Gefühl zu haben. Ich habe dies auch in mein Privatleben übernommen und konnte mit Freude bis morgens um halb drei Wohnzimmer tapezieren oder eine Facharbeit in einer Nacht schreiben, wenn ich doch noch einen Monat dafür Zeit gehabt hätte. Es ist ein belohnendes Gefühl. Ein Gefühl von Stolz und ein Empfinden unverzichtbar zu sein. Die Welt liegt auf meinen Schultern und sie tut gut daran, dies zu tun.
Wenn Silvester der Zeiger umspringt, dann ist dieses Gefühl wieder da. Ein Projekt ist erledigt. Ein neues Projekt beginnt. Wo steht das Klavier? Wer trägt die Noten? Let’s go!
Silvester ist also in gewisser Weise mit Alkohol vergleichbar. Es ist Lösung und Problem zugleich. Und deswegen brauchte ich einen anderen Ansatz als bei Weihnachten. Bei Weihnachten nehme ich keinen Suchtdruck o.ä. war, weil ich mich von allem abgegrenzt habe. Der Gedanke war, dass auch die Anspannung und der Alkohol nicht stattfinden, wenn das Fest nicht stattfindet. Bei Silvester ist es anders. Silvester soll es für mich geben. Sicherlich mit einem geringeren Grad an jugendlichem Eskalationswillen, aber an diesem Tag möchte ich nicht alleine zu Hause sein. Mir war also bewusst, dass ich auf den Anlass nicht verzichten werde und ich an diesem Tag im Jahr auf einen alten Freund stoßen werde. Und dafür brauchte ich eine Strategie.
We’ll have champagne with the bird
Meine erste Veränderung war, dass ich meine Rolle verändern wollte. Ähnlich wie später im Beruf muss ich nicht überall die erste Geige spielen. Ich lade nicht ein. Ich lasse mich einladen. Ich bringe mit, was ich mitbringen soll. Im Zweifelsfall nur mich. Früher hatte ich noch für jeden, aber natürlich auch für mich, die lustigen Spaßgetränke selber angesetzt. Schwarze Sau und Sauren z.B. Und manchmal viel mir das arg spät ein, so dass ich schon angekratzt mit der Party begann. So nicht mehr heute! Was da ist, ist da und wenn was fehlt? Pech! Ich bin nur noch schmückendes Beiwerk. Cola, Ginger Ale, zack, bumm bonjour. Für den Kopf ist das unglaublich gut. Verantwortung abzugeben. Bescheiden zu sein. Kein Gedankenkarussell mehr:
„Ich glaub‘, ich muss noch…!“ „Ist genügend von allem da oder…?“ „Hab‘ ich eigentlich…?
F..k it!
Als nächstes habe ich mich damit abgefunden, dass ich mich nicht immer räumlich abgrenzen kann. Manchmal bedarf es einer gewissen inneren Stabilität. Einer Stärke, die auf Erfahrung und Gewissheit beruht, dass ich Alkohol auch eine Zeit ignorieren kann. Und ich kann auch ablehnen, sollte er mir angeboten werden. In einer Gesellschaft, bei der der Alkoholgenuss als Kulturgut definiert wird, muss ich dies gelegentlich aushalten können. Aber frei nach James Bond ist es ebenso bedeutsam, sich immer einen Fluchtweg offenzuhalten.
Ich muss wachsam und empfindsam mit mir sein. Wenn ich an diesem Tag das Gefühl, dass ich das alles nicht leisten kann, muss ich auch verzichten und ggfls. die Feier auch verlassen können. Neujahr in der Entgiftung wäre für den Jahresbeginn kein gutes Omen, oder?
Eine dritte Option konnte ich auch noch verändern. Und zwar die Art und Weise des Feierns selbst. Beim Kochen bin ich raus. An Silvester hatte ich mir zu sehr den biolekschen Style angeeignet: „Oh, und wie das riecht. Und dazu ein leckeres Glas Chardonnay.“ Heutzutage ist sowieso eher Raclette angesagt. Punkt für mich! Die Partyzeit war mal. Wenn Alexa 80er spielt und dazu spielen wir eine Runde Montagsmaler und Quatschen, dann ist es auch schön. Zweiter Punkt für mich! Auf Knallen lässt sich gut verzichten und Anstoßen klappt auch gut mit Senfberliner und Kaffee. Dritter Punkt für mich!
Und so verändert sich sukzessive der Rahmen, aber das Bild bleibt gleich. Und aus dem Alkoholbuddy wird dieser eine Gast, den ich nicht mag, weil ich absolut nichts mit ihm gemeinsam habe. Wir sagen „Hallo“ und „Tschüss“ und nehmen ansonsten auch nicht weiter Kenntnis voneinander. Jeder bleibt in seiner Ecke. Mich haut‘ der Typ jedenfalls nicht mehr aus den Socken.
We’ll have port with the fruits
Und ich finde, dass das ganz schon viel ist, um an einem Ereignis teilzunehmen, was so eine starke Symbolik für mich hat. Und es trägt mich nun schon seit sieben Jahren durch diverse Anlässe. Mittlerweile schaue ich mit einer gewissen Selbstironie zurück und sehe meine Verwandlung von James zu Miss Sopie. Abstinenz bedeutet eben nicht das Abgrenzen von dem, was mir früher unter Alkohol so viel Spaß gemacht hat. Abstinenz bedeutet die Freiheit es auszuprobieren und die Fähigkeit mich Abzugrenzen, wenn das Ausprobieren nicht so klappt, wie ich es für meine Gesundheit brauche. Dieses Handeln hat nichts Feiges, sondern es ist ein Bewusstsein – ein Bewusstsein der Stärke.
Und auch hier möchte ich abschließend hervorheben, dass Abstinenz etwas sehr Individuelles ist. Dies ist meine Sicht auf Silvester und meine Art und Weise damit umzugehen. Der Jahreswechsel ist für den einen nur ein Tag. Und für den anderen ist Feier gleich Feier. Und so birgt jede die gleich Rückfallgefährdung. Für den nächsten ist abstinent zu feiern überhaupt gar kein Problem, weil der Missbrauch von Suchtmitteln ganz andere Gründe hatte.
Mir persönlich hatte es sehr geholfen, dass ich meine Empfindungen in meinem Leben auseinandergepuzzelt habe und ich versucht habe zu verstehen, warum ich bestimmte Dinge mag und andere wiederum nicht. Ich lerne jeden Tag etwas von mir und vermutlich werde ich damit wohl nie ganz fertig werden.
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