Therapie - ja oder nein?

Nach zwei Jahren der Abstinenz kämpft Stefan erneut mit seinen Dämonen und steht vor der Entscheidung zu einer weiteren Therapie. Ein innerer Konflikt zwischen Verstand und Herz, geprägt von Scham und Schuld. Dies ist seine Geschichte über den Mut, den Neuanfang zu wagen und sein Leben zurückzuerobern. 

Therapie - ja oder nein?

Das ist die Frage, die mich seit einigen Monaten beschäftigt. Es ist keine einfache Entscheidung. Den Entschluss zu fassen, das eigene Leben zu ändern, aus dem Konsum auszusteigen und einen Neubeginn zu wagen, ist ein langer Prozess. Aziz von meiner Stamm-Selbsthilfegruppe CliC ermutigte mich, meine Überlegungen mit Euch zu teilen. Vielleicht befindet sich jemand von Euch in der gleichen Situation. 


Ich bin schon sehr lange süchtig. Mit 21 Jahren gestand ich mir erstmals mein Drogenproblem ein. Heute bin ich 41. Ich habe bereits zwei Langzeittherapien abgeschlossen, Vieles an meinem Leben geändert und lange, zufriedene Abstinenzphasen erlebt. Jetzt geht es mir also um meine dritte Langzeittherapie. Wird die 3 meine Glückszahl sein?

Man könnte eine gewisse Routine erwarten. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie erscheint mir immer wieder wie ein Konflikt zwischen meinem Verstand und meinem Herzen. Manche vergleichen es mit dem Comic-Engel und dem Teufel, die streitend auf den Schultern sitzen. Mich selbst erinnert meine innere Zerrissenheit an Dr. Jekyll und Mr. Hyde. 

Mein Kopf sagt, dass es so nicht weiter gehen kann. Mein Herz lauscht dagegen viel zu oft den süßen Versprechungen des Rausches. Ich bin so etwas, was man unter Alkoholikern einen Pegeltrinker nennt. Meine experimentierfreudigen Jahre des Sturms und Drang liegen schon lange hinter mir. Geblieben sind die Opioide. Ich bemühe mich um einen gesellschaftsfähigen Konsum. Ich gehe zur Arbeit, treibe regelmäßig Sport, gehe meinen Hobbies nach und habe viele Interessen. Und ich substituiere mich selbst. Ich funktioniere. Die meisten meiner Mitmenschen sehen mir den Konsum nicht an. Ich bin ziemlich gut darin geworden, dieses Doppelleben zu führen, aber es kostet viel Kraft und es widert mich an.
 

In der Psychologie spricht man vom individuellen Leidensdruck, der groß genug sein muss, damit der Mensch zur Veränderung bereit ist. Man könnte auch fragen, wie tief ich fallen muss. 

Eine Therapie ist nur dann erfolgversprechend, wenn sie intrinsisch motiviert begonnen wird. Bei meiner ersten Langzeittherapie im Jahre 2019 war das nicht der Fall. Mein Kopf hatte entschieden. Mit dem Herzen war ich nicht bei der Sache. Ich hatte Mist gebaut und war es meiner Frau und meiner Familie schuldig, etwas zu ändern. Die Therapie tat mir gut, aber der Erfolg war nur von kurzer Dauer. Danach ging sehr schnell sehr viel kaputt. Ich erreichte einen Punkt, von dem aus es nicht mehr weiter ging. Ich konnte nicht mehr. Ich wagte den Absprung, trennte mich von meiner Frau, meiner Karriere, von der Stadt, in der ich gelebt hatte. Nach sechs Monaten Therapie kam ich über das Ameos-Adaptionshaus nach Lübeck. Ich umarmte mein neues Leben, verliebte mich in meine neue Heimat und fand für mich völlig überraschend eine wunderbare Beziehung. Zwei Jahre lang war ich glücklich und clean. 

Es tut mir sehr leid, all das aufgegeben zu haben und ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Diesen traurigen Novembertag ungeschehen machen. Ich war unachtsam gewesen und bin in schwierigen Zeiten die altbekannten Abwege gegangen. Hier wollte ich doch nie wieder hin! Im Sommer zog ich die Notbremse und machte eine Entgiftung. Für den nächsten Schritt war ich allerdings nicht bereit. Ich bildete mir ein, ich könne mit den mir bekannten Strategien selbst wieder zurück zu einem abstinenten Leben finden. Was sollte man mir in einer weiteren Therapie denn noch beibringen können, was ich nicht schon wusste? Ganz bestimmt wollte ich nicht noch einmal sechs Monate opfern und mein selbstbestimmtes Leben eintauschen gegen das strenge Regelwerk einer Klinik und die Gesellschaft anderer Süchtiger. Ich habe in der Entgiftung Menschen kennengelernt, die ich nie wieder treffen will. Stattdessen wollte ich es mir und allen Zweiflern beweisen, dass ich es selbst schaffen könnte.

Natürlich hat es nicht funktioniert! Wie ich so naiv sein konnte, kann ich mir nur damit erklären, dass die Sucht mir wieder einmal kräftig das Gehirn gewaschen hatte. Wie soll es jetzt weitergehen? Was hält mich jetzt noch ab von einer weiteren Therapie?

Das größte Hindernis sind Schuld und Scham. Ich schäme mich vor mir selbst, wieder einmal versagt zu haben. Ich schäme mich vor meinem Partner und meiner Familie, die zu mir stehen und die ich immer wieder enttäusche. Diese Scham macht es mir unglaublich schwer, meine Fassade aufrecht zu halten und weiter zu funktionieren. Morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich empfinde Schuldgefühle, weil ich wider besseres Wissen handele und all denen etwas vormache, die mich unterstützen und mir am nächsten stehen. Ich habe Angst, dass sie sich von mir abwenden könnten. 

 

Was kann ich tun gegen die Schuldgefühle und die Scham? Ich will mich aufraffen und mein Leben wieder in die Hand nehmen. Die Angst vor dem Verlassenwerden ist nicht unbegründet, aber das Risiko ist vermutlich geringer, wenn ich etwas für mich tue. Wenn ich kämpfe. Wenn ich ehrlich bin mir selbst und anderen gegenüber.

Ich bin traurig. Ich würde weinen, wenn ich es könnte. Mein Leben ist zu einem Gefängnis geworden. Ein Karussell, das sich immer schneller dreht. Es fällt mir schwer, noch Freude zu empfinden für die Dinge, die ich mag. Ich fühle mich einsam. Ich möchte zurück zu mir selbst und zu den Menschen, die mir nahestehen.

Plötzlich kann ich es kaum noch erwarten. Niemand opfert Zeit für eine Langzeittherapie. Wir verschwenden Zeit, solange wir nicht aktiv werden und unser Schicksal wieder in die Hand nehmen. Mir ist klar – es ist kein Leben, was ich derzeit führe.

- Stefan

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