Stigma und Realität
In einem schönen Artikel in der ZEIT wird über einen Ort berichtet, an dem die Besucher mitgebrachten Alkohol trinken dürfen – das Café Anker in Mannheim.
(Wir verlinken hier nicht, da der Artikel hinter einer Paywall ist und ZEIT-Abonnenten, die sich für das Thema interessieren, diesen bereits gelesen haben werden.)
Dort wird das Konzept „Trinkraum“ von zwei Trägern umgesetzt: Wikipedia-Artikel: Alkoholkonsumraum.
Ein begrüßenswertes, niedrigschwelliges Konzept mit hoher Akzeptanz bei Betroffenen.
Aufgrund von Vorurteilen aber auch tatsächliche vorhandenen Auffälligkeiten örtlich schwer umzusetzen. Welcher Vermieter in Innenstadtlage würde so etwas mittragen? Da bleibt meist nur die Nutzung von kommunalen Örtlichkeiten.
Die Betreiber schufen dort im Café Anker so etwas wie eine alkoholische Hegemonie.
Unter der Überschrift: „Ein Mensch wie jeder andere, nur eben süchtig“ wird empathisch über die Besucher und ihre Problemlagen berichtet. Persönliche Schicksale werden ausführlich erläutert, Absturzlinien thematisiert. Alle Befragten wirken dabei etwas derangiert, mit Unterbrechungen und Brüchen in Lebensläufen oder Schicksalsschlägen. Auch zeigen Bilder von am Tisch dösenden Nutzern klassisches Konsumverhalten schwerer Trinker. Auch Aussagen über den nicht immer unproblematischen Umgang mit den Nutzern gibt es natürlich, deren Relativierungen dem Tatsachen auch nicht gerecht werden würden.
Die Wirkung von Klischees und Stereotypen
Aus einigen Kommentaren und Antworten wird jedoch deutlich, was bei einem großen Teil der Leser hängen bleibt:
Suchtkranke – in diesem Fall Menschen mit Alkoholabhängigkeit – gelten als generell „abgestürzt“, zu einem großen Teil obdachlos, ohne Perspektiven und Tagesstruktur.
Die klassischen Klischees werden bestätigt und manifestiert, obwohl dies nicht die Intention des Artikels ist.
Im Zerrbild eines großen Teils der Gesellschaft sind alkoholkranke Menschen vor allem im öffentlichen Raum sichtbar und verhaltensauffällig.
So spricht ein Kommentar von einem Leben ohne Sucht und „ohne die unangenehmen Verhaltensweisen auf der Straße“. Diese Aussage mag auf die im Artikel beschriebenen Klientel teilweise zutreffen, doch sie zeigt, wie sehr Stereotype verankert sind.
Bekannt sind diese Situationen: Ansammlungen von Alkohol konsumierenden Menschen in Eingangsbereichen von Supermärkten, Fußgängerzonen oder anderen neuralgischen Plätzen – oft einhergehend mit Lärm, Verunreinigungen oder anderen Auffälligkeiten.
Doch diese Gruppe bildet – wie Fachleute wissen – nur die Spitze des Eisbergs.
Die unsichtbare Mehrheit der Alkoholkranken
Die meisten behandlungsbedürftigen Alkoholkranken umgeben uns im Alltag. Sie leben in der Nachbarschaft, sind im Sportverein, am Arbeitsplatz oder bei Freizeitaktivitäten präsent. Sie führen oft – wenn auch fragile – Beziehungen, gehen einer Arbeit nach, nehmen am Alltag teil und wohnen zur Miete oder im Eigenheim.
Diese Menschen fallen nur selten durch ihr Konsumverhalten auf.
Auch wenn es erste Warnzeichen gibt, wird oft relativiert und verharmlost. Im Kontrast dazu bieten die im ZEIT-Artikel geschilderten Einzelfälle eine willkommene Möglichkeit zur Abgrenzung.
Schnell ist der Verweis auf „die da“ erbracht: „So bin ich doch nicht, ich habe doch kein Alkoholproblem wie DIE!“
Diese Form der Distinktion gehört zu den bekannten Abwehrmechanismen, die Suchtkranke oft meisterlich beherrschen.
Dazu kommt, dass nach einem „Outing“ von Suchtkranken oft der Satz zu hören ist:
„Das hätte ich bei ihm/ihr nie gedacht“.
Solange also bestimme Klischees nicht erfüllt sind, hat der Abhängige noch „Luft“, auch hier zeigt sich vielfach das Nichtwissen um die Krankheit, was in der Mehrheit auch überhaupt nicht zu beanstanden ist.
Allerdings kann man aufgrund der großen Anzahl von Betroffenen schon von einer Volkskrankheit sprechen, im Zuge dieser sollte ein breiteres Wissen um dieses Krankheit schon verfügbar sein, abseits von einem voyeuristischen Blick.
Auswirkungen des Stigmas auf Behandlung und Gesellschaft
Die Vorstellung, Suchtkranke müssten erst „ganz unten“ ankommen, um eine Behandlung zu beginnen, gehört auf den Müllhaufen der Suchtbehandlung.
Solche Klischees behindern Fortschritte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und erschweren den Zugang zur Therapie.
55 Jahre nach der Anerkennung von Alkoholismus als Krankheit durch das Bundessozialgericht (1968) sind Stigmatisierungen immer noch präsent – auch bei Ärzten oder Pflegekräften.
Frühe Interventionen bei Suchtkranken mit stabilen Lebensstrukturen erhöhen die Chancen auf eine dauerhafte Veränderung erheblich. Unterstützung durch Partner, Arbeitgeber und soziale Netzwerke ist hier entscheidend, um Entwöhnung, Nachsorge und Selbsthilfe effektiv zu nutzen.
Medienberichterstattung und ihre Rolle
Ein weiteres Problem ist die mediale Darstellung: Statt sachlicher Berichte wird oft nach Einzelschicksalen gesucht, die eine „dramatische Geschichte“ erzählen.
Fragen nach Hans oder Inge gingen durch die Suchthölle“ sind typisch, werden aber von uns nicht unterstützt. Pressanfragen, die uns erreichten, wollte genau dieses. Allgemeine Informationen zum, Wirken von Selbsthilfe, Inhalten von Therapiestunden oder gezielte Skills zur Aufrechterhaltung von Abstinenz standen eher nicht im Focus. Wir möchten betonen, dass diese Erfahrung natürlich nicht repräsentativ ist. Bestimmte Trigger (neudeutsch Clickbait) sollten hier wohl erzeugt werden.
Zu beobachten ist jedoch, dass bei anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Traumata und den Neurodiversitäten wie bspw. ADHS/ADS, zunehmend eine andere Form der Darstellung sichtbar wird. Vor allen Dingen bei der Diagnose Depression gibt es – befeuert durch zahlreiche prominente Betroffene- mehr Verständnis, mehr Aufklärung, mehr Diskussion.
Immer mehr Personen mit Depressionen gehen medial in die Offensive, thematisieren Verläufe, Strategien sowie medikamentöse Behandlungen deren Risiken oder Vorteile, dokumentieren aber auch Scheitern, individuell nicht hilfreiches Verhalten oder kontraproduktives Feedback vom eigenen Umfeld. Dadurch dass viele aus der Deckung kommen, erhöht sich langsam der gesellschaftliche Blick, die Akzeptanz und das Interesse an den Auswirkungen und Krankheitsbildern. Die – noch – auf breiter Bais fundierenden Ratschläge , man solle sich bei depressiven Stimmungen einfach „am Riemen reißen“, verliert zunehmend an Wertigkeit , so dass auch hier breite Veränderungen für alle Beteiligten Positives Erwirken.
Zur Alkoholproblematik hat die ZEIT im Rahmen des Dry January erfreulicherweise mehrere Artikel zum Thema Alkoholabhängigkeit veröffentlicht, die Diskussionen angeregt und neue Perspektiven eröffnet.
Klischees hinterfragen – Aufklärung fördern
Wir versuchen in unseren CliC-Seminaren, Stigma und Realität näherzubringen und Klischees zu hinterfragen.
Ein häufig geäußerter Satz lautet: „So seht ihr gar nicht aus!“ – eine Reminiszenz an stereotype Bilder von Suchtkranken, die optisch „gezeichnet“ sind - . der uns entgegenschallt, nachdem wir uns kurz vorgestallt und einen Abriss unseres Suchtverlaufes skizziert haben. Doch diese äußerlichen Zeichen sind nicht repräsentativ. Und teilweise auch gar nicht in dem Ausmaß vorhanden.
Mit wiederhergestellter Gesundheit und Abstinenz verbessern sich Aussehen, Körpersprache und Mimik erheblich. So entsteht dann mittelfristig ein anderes Bild.
Solange jedoch stereotype Rollenbilder bestehen bleiben, gilt es, weiterhin dicke Bretter zu bohren.
Aber es bewegt sich was!
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